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Kohärenz vorwärts und rückwärts

 

Die Strukturelemente einer Gesellschaft stehen nicht zusammenhanglos in der Gegend herum wie Möbelstücke in einem Möbellager. Sie entwickeln sich und existieren in ständiger Wechselwirkung miteinander. Sie bedingen sich und reagieren aufeinander. Veränderungen in einem Element sind sind meist nicht ohne Rückwirkungen auf andere Elemente oder ihre Beziehungen untereinander bzw. meist nicht ohne korrespondierende Veränderungen in anderen Elementen möglich. Das ist der Grund, weshalb Veränderungen so schwer durchzusetzen sind und auf soviel zähen Widerstand stoßen. In der Verhinderungsterminologie von Politikern, Bürokraten und Lobbyisten hat sich dafür der Ausdruck Sachzwänge eingebürgert.

 

Hermann Scheer beschreibt in Solare Weltwirtschaft das Füllhorn der solaren Rohstoffe, die im Energiebereich ebenso wie bei den industriellen Rohstoffen an die Stelle der fossilen Stoffe treten könnten. Wenn die fossilen Rohstoffe Erdöl und Erdgas in der Erzeugung von Kunststoffen, Schmierstoffen und Farbstoffen durch die nachwachsenden Rohstoffe wie Weizen, Mais, Soja, Rapsöl, Palmöl, Zuckerrohr und Zuckerrüben, Hanf und andere Naturfasern ersetzt würden, könnte eine naturverträgliche Materialwirtschaft an die Stelle der fossilen Chemieindustrie treten, die heute mit einer Unzahl von schädlichen, zum Teil krebserregenden und erbgutschädigenden synthetischen Stoffen die Biosphäre vergiftet. Darüberhinaus sind die "chemischen Produkte aus fossilen Kohlenwasserstoffen die Hauptursache für das Müllproblem der Zivilisation. Die synthetischen Verbindungen sind entweder nicht oder nur mit komplizierten und kostspieligen Verfahren wieder in ihre Ausgangsstoffe zerlegbar. Dies reduziert ihre Wiederverwendungs-möglichkeiten drastisch, da sie von der Natur schwer oder überhaupt nicht abbaubar sind, so daß sie entweder deponiert oder - mit negativen Umweltfolgen - verbrannt werden müssen. Aus Pflanzen hergestellte Chemieprodukte werden nicht nur gegebenenfallls von der Natur selbst rezykliert, sie sind auch verbrennungsfreundlich" (Scheer 1999: 226).

Eine voll entwickelte solare Ressourcenwirtschaft, in der Kunststoffe, Schmierstoffe und Farbstoffe aus Pflanzennaterial hergestellt werden, würde die ganze bösartige Verschrobenheit der heutigen Kohlenwasserstoffchemie aufzeigen. Während heute große Teile des Mülls sorgfältig und kostenaufwendig in verschiedene Fraktionen getrennt, z.T. als Sondermüll behandelt, z.T. aufwendig in verschiedene Bestandteile zerlegt werden müssen, bevor sie vebrannt oder rezykliert werden können; während bei der Produktion und bei der Entsorgung, ob durch Ablagerung, Verbrennung oder Recycling ständig schädliche Stoffe in mehr oder wengier großenMengen in die Umwelt geraten, wäre die Beseitigung und Verwertung der Abfälle aus einer "Natur"chemie völlig problemlos (abbaubar, und gefahrlose Verbrennung), sie würde sogar "zu einem integrierten Element der Bereitstellung erneuerbarer Energien" (Scheer 1999: 226).

 

Kohärenz wirkt vorwärts und rückwärts. Auf der einen Seite erzeugt, stützt und rechtfertigt sie die bewahrenden Kräfte in der Gesellschaft und wirkt mächtig daraufhin, daß die heutigen Strukturen in die Zukunft hinein fortbestehen. Man könnte sie also auch als das beharrende, retardierende Moment bezeichnen. Aber sie ist zugleich das Lebensblut der Utopie. Aus den komplexen Zusammenhängen der Gegenwart heraus erscheinen wesentliche Veränderungen unmöglich: Jede Veränderung zieht einen Rattenschwanz von Folgewirkungen nach sich, die fast immer als schädlich oder störend gesehen werden, weil sie mit anderen Elementen in Konflikt geraten. Eben dies macht die Faszination der Utopie aus: In ihr werden alle Veränderungen gebündelt, sie werden von vorneherein als zu einander passende Teile eines Ganzen entworfen, sie sind untereinander kohärent, und ihre Kohärenz wirkt zurück in die Gegenwart und ermöglicht heute die Veränderungen zu denken, die notwendig sind, um den für morgen angepeilten Zustand zu erreichen. Backcasting ist eine kreative Diskurstechnik, die sich auf ähnliche Überlegungen gründet.

Die Vorwärts-Kohärenz ist die Zähigkeit der Verhältnisse, die uns einerseits vor allzuschnellen, unüberlegten Veränderungen schützt und die andererseits wichtigen, notwendigen Veränderungen in der Gestalt von Besitzstandswahrung und sogenannten Sachzwängen oft unüberwindliche Hindernisse in den Weg legt. Genau an dieser Stelle hat die Utopie ihren strategischen, psychologischen und diskursiven Platz.

Kap. 8 stützt sich auf diese Rückwärtskohärenz, um Entwicklungsskizzen einer Welt zu entwerfen, die sich in die Grenzen des dauerhaft Möglichen zurückgezogen hat. In Kap. 7 werden einige Einzelszenarien skizziert, die das Konzept illustrieren. Ein weiteres konkretes Beispiel ist die "Reproduktive Arbeit" in L63.



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